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Literatur unterwegs 2019/ 2020

Literatur unterwegs  

Literatur als friedlicher Widerstand: LIBANON

3. März, 19 Uhr, VHS, Ägidiimarkt, Forum 1

2-sprachige Lesung und Gespräch zur zeitgenössischen Literatur mit Prof. Abdo Abboud und Georg Schaaf (ArDeLit)

Jahrzehntelang galt der Libanon als „Schweiz des Orients“, und seine Hauptstadt Beirut als „Paris des Nahen Ostens“. Doch Mitte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts brach im Libanon ein blutiger Bürgerkrieg aus, der ca. 15 Jahre dauerte, viele Menschen das Leben kostete und große Zerstörung hinterließ. Auch nach dem Bürgerkrieg blieb die politische Lage des Landes instabil. Seit mehreren Monaten protestieren Zehntausende von jungen Libanesen gegen das politisch Proporzsystem und die Korruption.

Die libanesische Literatur war ein Spiegel dieser sozialen und politischen Entwicklung. Dichter*innen wie Khalil Hawi, Fuad Rifka, Unsi Al-Hadj, Sa’id ‘Aql und Etel ‘Adnan, Erzähler*innen wie Elias Khoury, Emily Nasrallah, Nadjwa Barakat, Hanan Al-Shaikh und Iman Humaidan reflektierten in ihren Werken die Verhältnisse in ihrem Land und wurden in der arabischen Welt und weit darüber hinaus bekannt. Ein Teil dieser Werke liegt in deutscher Übersetzung vor.

In unserer zweisprachigen Lesung (arabisch-deutsch) wollen wir anhand von ausgewählten Texten der libanesischen Gegenwartsliteratur den Zuhörer*innen der Veranstaltung Einblick in den unendlichen Reichtum dieser Literatur verschaffen. Im Libanon ist Literatur eine Form des friedlichen Widerstands.  Wir lesen Gedichte von Khalil Gibran, Khalil Hawi, Fuad Rifka und Unsi al-Hadj.

Veranstalter: VHS Münster, Evangelisches Forum Münster e. V. Der Eintritt ist frei.

Der arabische Frühling ist noch nicht vorbei!

Im 5. Jahr ihrer zweisprachigen Lesereihen zur zeitgenössischen Literatur der arabischsprachigen Welt im Kontext von Flucht und Vertreibung, politischem Widerstand und Exil, Bewahrung des reichen Erbes und Erneuerung der arabischen Literatur präsentierte ArDeLit am 03. März 2020 einen multimedial gestalteten Abend, in dessen Verlauf das Publikum dem künstlerischen Ringen um Klarheit und Wahrhaftigkeit der vorgestellten Autoren Khalil Gibran, Khalil Hawi und Fuad Rifka gebannt folgte und durch die Lieder von Fairuz und die Klänge einer arabischen Laute (Oud), gespielt von Assad Elias Kattan hautnah miterleben konnte, was Worte nur anzudeuten vermögen.

Fragen zu Hintergrundinformationen, zu den Künstlern ebenso wie zur aktuellen Lage wurden differenziert beantwortet. Als prominenter Künstler-Gast und Referent trug Prof. Dr. A. E. Kattan, Theologe an der WWU, seine Analyse des politischen Systems präzise auf den Punkt gebracht und mit starken poetischen Bildern ausgestaltet vor: Korrupte Politiker spielen auf einer Theaterbühne, über die der Schatten einer dunklen Wolkenwand heraufzieht. Doch die vom Wohlstand ausgeschlossenen Menschen haben sich entschieden, keine Zuschauer mehr zu sein. Stattdessen ziehen sie tanzend und singend durch die Straßen Beiruts. Die Sonne scheint auf ihre müden Gesichter – sie engagieren sich für eine politische Ordnung, die religionsübergreifend ist, den Konfessions-Proporz beendet, sie sind kritisch, wachsam. Die Bühne bleibt verdunkelt vom Schatten des Untergangs, dem Bankensterben und Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, dem Todesschatten eines Vaters, der sich Ende 2019 verzweifelt das Leben nahm, weil er kein Geld für sein Kind hatte. Die aufkommende friedliche Revolution gibt ihm seine Würde zurück.

Im Libanon gibt es bis heute keine Zensur – Beirut, die Hauptstadt der Bücher, bewahrt das reiche kulturelle Erbe, den Liberalismus, die Hoffnung der Erneuerer in Kunst und Literatur – vielleicht auch im Blick auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

In seinem einleitenden Statement zu diesem Abend betonte Georg D. Schaaf, dass es Prof. Dr. Abdo Abboud und ihm in diesem – wie in allen vorangegangenen Abenden – darum ging, „Stück für Stück das gemeinsame Fundament freizulegen, das Menschen weltweit miteinander teilen /…/ die Fähigkeit und Bereitschaft, friedlich miteinander auszukommen, ohne bestehende kulturelle, sprachliche, religiöse oder sonstige Unterschiede überall und bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund zu stellen, ohne sich selbst und seinesgleichen über andere zu erheben. Kurz: Die Fähigkeit zur Toleranz und die Bereitschaft, so zu handeln, als besitze man den einen Ring, den, der seinen Träger, seine Trägerin „vor Gott und den Menschen angenehm“ macht.“

Mögen wir Lessings Ring-Parabel noch einmal alle genau nachlesen in seinem Meisterwerk „Nathan der Weise“ und dabei entdecken, wie leicht diese Gabe täglich neu verschenkt, miteinander geteilt und ganz selbstverständlich werden kann.

 

Literatur unterwegs

Algerien im Spiegel seiner Gegenwartsliteratur

mit Prof. Dr. Abdo Abboud und Georg-D. Schaaf M. A.
(Arabisch-Deutscher Literaturkreis | ArDeLit.net)

Seit mehreren Monaten demonstriert die algerische Bevölkerung friedlich für politische Reformen und die Überwindung des von Militär und Geheimdienst beherrschten repressiven und korrupten Regimes. In welcher Situation befinden sich Staat und Gesellschaft dieses nordafrikanischen Landes?

In der arabischen Welt wird Algerien „Land der 1 Million Märtyrer“ genannt. Etwa 1,5 Millionen Frauen, Männer und Kinder wurden im Unabhängigkeitskrieg auf algerischer Seite getötet, ehe die Kolonialmacht Frankreich 1962 der Unabhängigkeit des Landes zustimmte. Frankreich hinterließ ein stark zerstörtes Land, das in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht bis heute gespalten ist. Auf die Unabhängigkeit folgten Diktatur, Bürgerkrieg, aber auch Versuche der Aussöhnung und Demokratisierung.

Die algerischen Schriftsteller*innen reflektieren teils in arabischer, teils in französischer Sprache die inneren Verwerfungen des Landes. Darüber wollen wir anhand ausgewählter Gedichte sprechen. Die Texte werden im Original und in deutscher Übersetzung gelesen. Zu Wort kommen werden Rabia Djelti, Zineb Laouedj, Habib Tengour und Mohammed Dib (Änderungen vorbehalten).

 

ALGERIEN – Land der Millionen Märtyrer

Arabiens Uhren gehen anders? So titelte einst Erich Gyslings Nahost-Studie (Zürich, 1982) ohneFragezeichen.

Gilt der Satz für nordafrikanische arabische Gesellschaften mit Fragezeichen?

Georg Schaaf leitete den Abend ein mit einem Zitat von Guy de Maupassant, der 50 Jahre nach der kolonialen Eroberung Algeriens sich bedrückt und peinlich berührt fühlte „von der brutalen, ungeschickten französischen Zivilisation, die sich so wenig auf die Sitten und die Menschen einstellt.“, und schreibt:Wir sind es, die wie Barbaren wirken…“ (in: Le Gaulois, 20. Juli 1881)

Spürte Gysling 1982 Zwischentöne auf, die die arabische Identität und ihr Anderssein ausmachen, analysierte er Wertvorstellungen und schilderte Strömungen in der Gesellschaft, so ist es heute, 40 Jahre später in der Regel selbstverständlich, die Perspektive der Anderen einzunehmen, sie selbst zu Wort kommen zu lassen und über das Anderssein nachzudenken. Und ebenso über neokoloniales Denken, postkoloniale Identität und Identitäts-Suche.

Was wissen wir über Algerien? Mediale Nachrichten und auch Geschichtsbücher vermitteln ein eher bewegtes Bild, in dem sich Hoffnung und Widerstand ebenso wie Verzweiflung spiegeln, Mut und Beharrlichkeit ebenso wie Trauer und Ohnmacht. Auf dem Hintergrund von Ausbeutung, Unterdrückung, Erniedrigung und Gewalt, seit Generationen ins kollektive Gedächtnis geschrieben, entstehen neue Narrative für eine gerechtere Zukunft.

In der Literatur, in den unzähligen Romanen und Gedichten, die sowohl in arabischer als auch französischer und deutscher Sprache geschrieben vorliegen, fügen sich die Informationen zu einem facettenreichen Bild, wie Prof. Abdo Abboud kenntnisreich erläuterte. Französische Kultur und algerische Tradition fließen seit Jahrzehnten darin zusammen, die Themen sind so vielfältig und bereichernd wie das Leben zwischen den zwei Welten. Mit den ausgewählten Gedichten bekam das Publikum einen kleinen Einblick: Die Fülle dieses Lebens bei Rabia Djelti, die sich engagiert einmischt in den aktuellen Diskurs und mit weicher Stimme unerbittlich in der medialen Öffentlichkeit auftritt. Salomon als historische Figur und als Identitätsstifter bei Sliman Djawadi. Der Maghrebiner, der immer anderswo ist. bei Habib Tengour: Und er verwirklicht sich nur dort.“ Tengour sagt von sich: „Exil ist mein Beruf.“ Seine Gedichte kreisen unentwegt um das Thema Leben in der Fremde und die kulturelle Identität Algeriens. Die Helden seiner Texte sind, wie er selbst, Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne.

Die Reflexion über kulturelle Identität und über die Botschaft, die ein Dichter/ eine Dichterin allein durch die Tatsache verbreitet, dass sie/ er in Französisch oder Arabisch schreibt, bestimmte dann anschließend auch das lebhafte Gespräch zwischen dem Publikum und den beiden Vortragenden. Das Sowohl-als-Auch der Sprach-Wahl je nach Thema und Befindlichkeit, ein stückweit gelebte Transkulturalität, die in verschiedenen Welten, Kulturen gleichermaßen zu Hause ist, scheint beim jüngsten der vorgestellten Autoren, Hassen Dif (28) auf, der seit einem Jahr auch auf Deutsch schreibt, Ich weiß, Dass ich nicht der Mensch bin, Der zum Lächeln geboren wurde.“