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Libyen im Spiegel seiner Gegenwartsliteratur

Zweisprachige Online-Lesungen und GesprächeMontag, 1. März 2021, 19–20.30 Uhr Veranstalter Arabisch-deutscher Literaturkreis ArDeLit.net | Ev. Forum e.V. | VHS MünsterMitwirkende Prof. Dr. Abdo Abboud und Georg Schaaf (beide ArDeLit) – Anmeldung über die VHS https://t1p.de/cpno oder efm(at)gmx.info

Der nordafrikanische Staat Libyen erscheint in den Medien seit dem Sturz von Muammar Al-Ghaddafi im Jahr 2011 als Bürgerkriegsland und Transitland für afrikanische Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa wollen, aber oft vor der libyschen Küste auf tragische Weise ertrinken. In unserer zweisprachigen Lesung (deutsch und arabisch) wollen wir Libyen im Spiegel seiner Gegenwartsliteratur präsentieren, die, von Ibrahim al-Koni abgesehen, in Deutschland so gut wie unbekannt ist. Diese Literatur artikuliert Sorgen und Sehnsüchte der Menschen Libyens, und vor allem ihre Sehnsucht nach Freiheit, Frieden und Menschenwürde. Dadurch erweist sich Literatur als eine Form von friedlichem Widerstand.

Bericht zur Online- Lesung (pdf)

Befrei deinen Himmel…“ – ein Gedicht, das so beginnt und zum Ende hin „Dein Moses ist in dir…“ und „Hinter dir der Tod und vorne das Entrinnen….“ verkündet, sendet ermutigende Botschaften: Widerstand, Selbstbehauptung, Zuversicht und Gottvertrauen. Das Gedicht beschreibt sogar den Weg dahin: „Steig hinab/ als Herrscher über den Pfad deiner selbst: gänzlich frei./…/ und dann flieg…/ Höher und höher…“ Eine Anleitung zum Widerstand? Oder doch eher eine Vision, wie Resilienz entwickelt werden kann?

Der Autor, Abdouldaim Ukwas, geb. 1975, lebt in London im Exil – ein unpolitisch-politischer Aufständischer, dessen Lyrik Trauer und Schmerz, Heimweh und Trost vereint und der aus eigener Erfahrung spricht, wenn er gleich darauf textet: „So wandle mit deinem Traum auf dem Weg der Verlorenen…“ ? So ist am Ende doch alles nur ironisch gemeint: „Herrscher auf dem Thron deiner selbst: gänzlich frei.(www.lyrikline.org)

Leise Ironie, Spott über Willkürherrschaft vermischt mit Trauer und Sehnsucht – die junge (und ältere) Literatur Libyens ist reich an Beispielen dafür. Prof. Dr. Abboud und Georg Schaaf stellten in ihrer Text-Auswahl zur zweiten Online-Lesung der Lese-Reihe 20/ 21 auch eine beißende Satire vor, die als Märchen getarnt die gestrenge Gaddafi-Zensur überwand: „Der Regen und die Träume“, geschrieben  von Ahmed Ibrahim al-Fagih (1942-2019), einem einflussreichen, hochgeschätzten Schriftsteller und Journalist, der als Leiter der Kunst- und Kulturabteilung im libyschen Informations- und Kulturministerium und schließlich als Pressesprecher der libyschen Botschaft in London auch auf eine langjährige diplomatische Karriere zurückblicken konnte.

Wie alle Autor:innen der 41 Jahre währenden Gaddafi-Ära musste er seine Bücher in Kairo, Beirut oder London publizieren und strenge Strafen fürchten, wenn seine Texte dem Herrscher, der sich selbst für einen großen Dichter hielt und Kunst und Kultur im Dienste seiner Revolution förderte, nicht gefielen. Al-Fagihschreibt – und das gilt auch für ihn selbst – über die Dichter seiner Zeit: „…sie schrieben nicht, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Sie schrieben aus einem (Pflicht-)Gefühl innerer Betroffenheit und Bestimmung und in tiefer Verbundenheit mit ihrer Kultur und ihrem Heimatland…. wie könnte es auch anders sein?“ (Vorwort zu E. Chorin: Translating Libya, 2014, eig. Übers.)

Der Dichter hat keine Wahl, er kann nicht unberührt bleiben vom Schicksal seiner Freunde und Verwandten, von der Geschichte seines Landes – entsprechend klingen die Sätze der als Märchen verpackten Satire so: „Das Volk schaute gen Himmel und wartete darauf, dass ein Wunder passierte und der Himmel ein Opferlamm schickte… Aber der Himmel machte dicht und füllte sich mit schwarzen Wolken, denn er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, Lämmer zu schicken, um die Menschen, die ihre Hälse den Sultanen überließen, vor dem Opfertod zu retten.“

Eine Generation später schreibt Abdouldaim Ukwas in „Die Sorgenfliegen“:

Ich sehe /…/ die Abbilder all jener, die mein Blut bewohnt haben…“ Aber auch: „Ich sehe in den Augen der Kinder Blitze / Sonnenaufgänge / Auswege aus der kreisrund vergleisten Gegenwart.“ (www.lyrikline.org)

Wir Zuhörer:innen dieses Abends mögen uns gern dieser Hoffnung anschließen und an die Notwendigkeit eines – wenn auch nur gefühlten – Optimismus glauben.

Das Online-Format ermöglichte ein intensives Hör- und Seh-Erlebnis der eingeblendeten Texte sowie einen disziplinierten Gedankenaustausch im anschließenden Gespräch, das Georg Schaaf moderierte. Die Atmosphäre bleibt jedoch bestimmt vom Charme des Computer-Bildschirms im Kontext des jeweiligen Aufenthaltsortes. Deswegen freuen wir uns umso mehr darauf, dass die nächsten beiden Lesungen dieser Lese-Reihe im Mai und Juni – voraussichtlich – wieder im Präsenz-Modus stattfinden können, d. h. wie geplant in der Erlöserkirche.