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Erinnerungen aus Istanbul füllen mein Zimmer…

Wann entfaltet Literatur Widerstandskraft? Wie, warum wird sie zur Wegbegleiterin auf der Flucht, zur Mutmacherin im trostlosen Alltag, zur Hoffnungsträgerin in der Einsamkeit des Exils oder der Gefangenschaft?

Foto und Übersetzung: Achim Wagner, #Siirsokakta-Projekt (Das Gedicht ist auf der Straße), 2014.
http://ruhrgebietmitte.blogspot.com/2016/04/achim-wagner-siirsokakta-projekt.html

Einige Antworten auf diese Fragen bekamen die Zuhörer:innen an diesem ersten Lese-Abend des Deutsch-arabischen Literaturkreises ArDeLit in der Erlöserkirche durch die vorgetragenen Gedichte selbst und durch die Erläuterungen von Prof. Abboud und Georg D. Schaaf.

Abboud verglich in seinem Vortrag zum Einfluss der türkischen Literatur in den arabischen Ländern – als die Gedichte„Hotel Bor“ und „Kerem Gibi“  vorgestellt wurden – Nâzim Hikmet mit Bertold Brecht. Beide können als „Ikone der modernen Dichtung“ gelten. Als überzeugte Kommunisten war für sie klar, dass eine Veränderung der Lebensverhältnisse nur durch inneren und äußeren Widerstand möglich wird, und dass dazu eine unverblümte Sprache nötig ist, die die Realität widerspiegelt. So textet Hikmet in seinem Gedicht 

Die große Menschheit“: (aus dem Türkischen übersetzt von Achim Wagner)

…Das Brot reicht für alle außer für die große Menschheit/ genauso reicht der Reis/ genauso reicht der Zucker/ genauso reicht die Kleidung/ genauso reicht die Bildung/ für alle außer für die große Menschheit. /…/

Auch Aziz Nesin, dessen satirisches Gedicht „Kaffee und Demokratie“ als erstes vorgestellt wurde, ist weit über die Türkei hinaus bekannt – in Syrien ist er (vor allem durch seine Satiren) so populär, dass er von manchem für einen Syrer gehalten wird, so Abboud, der anschließend mit Georg D. Schaaf über die Demokratie als „westliche Importware“ auch für die arabischen Länder sprach und erklärte, wie sehr schon das griechische Fremdwort „Demokratie“ als nicht zur islamischen Kultur zugehörig empfunden wird und eigene Begriffe und politische Traditionen betont und weiter entwickelt werden, die Religion und Politik miteinander verbinden. 

An diesem Abend wurde eine Gedichtauswahl vorgestellt, die – dank der muttersprachlichen Rezitation von Ayfer Öztürk – deutlich machte, wie sprachschön, wortgewaltig und inhaltsschwer türkische Autor:innen ihre Botschaften zum Ausdruck bringen, denn die Übersetzungen ins Deutsche lassen diese Schönheit nur erahnen.

Ganz besonders bleibt das Wiegenlied für den Enkel, die Flamme: Alaz!“ (von Gülten Akin, 2006) in Erinnerung, dessen deutscher Titel ein aufrührerisches Programm andeutet, dessen vierte Strophe jedoch mit der flehentlichen Bitte endet: …komm, nur komm – und rette uns! Denn, so wird es vorher geschildert, …Wir frieren, unser Kissen ist Schnee, unsre Decke gefroren…  Der türkische Titel lautet: ALAZ TORUNA NİNNİ. Die Wiegenlied-Gedicht-Sängerin spricht raunend mit dem Kind: 

Es weht und braust, hör auf die Stimmen, / hör auf den Sturm, die Stimmen der Berge

und erzählt ihm wundersame Geschichten von der hübschen Wolke, die Fische regnet, von der Zitronenblüte und dem mit einem Kuss vom Opa verzauberten Häubchen, das die Oma gehäkelt hat – dann springt die Sängerin unvermittelt zur Aufforderung: …Vertreib den Winter, den Winter vertreib aus Stube und Haus…

Dieses Gedicht erschließt sich aus der Sicht der Daheimgebliebenen Alten, Frauen und Kinder – die Männer sind fort, gefangen oder im Krieg oder getötet. So wie die Flamme des Herdfeuers die Menschen wärmen kann, soll die Rettung kommen? Doch wer oder was soll retten? Der Enkel liegt noch in der Wiege – und er heißt Alaz, die Flamme.

Das Gedicht erschließt sich, indem es Raum gibt zum Nachspüren, Assoziieren, Lauschen, und es fordert auf, genau hinzuhören und sich darüber auszutauschen. Das ist unser Anliegen für diese Lese-Reihe.